In Deutschland gibt es zu wenig Therapieplätze. Zumindest zu wenige, die von der gesetzlichen Krankenkasse übernommen werden. Eine private Therapie? Das können sich die wenigsten leisten. Psychisch kranke Menschen müssen oft lange suchen und dann mehrere Monate warten, bis sie einen Behandlungsplatz bekommen. Wir haben mit einem Psychotherapeuten aus Nürnberg über das Problem gesprochen.
In Deutschland leidet jede:r dritte Erwachsene an einer psychischen Erkrankung, insgesamt kommt man so auf 16,5 Millionen Betroffene. Zu den häufigsten Erkrankungen zählen Depressionen und Angststörungen. In den vergangenen 10 Jahren sind die Ausfälle aufgrund psychischer Erkrankungen um über 40 Prozent gestiegen und sind auf einem erschreckenden Höchststand: 2021 kamen auf 100 Versicherte 276 Fehltage, durchschnittlich waren Betroffene 39 Tage am Stück krankgeschrieben.
Doch warum sind die Therapieplätze so knapp? Die Antwort darauf ist gar nicht so einfach, denn: Es gibt genug Psychotherapeut:innen. Der Grund für die knappen Therapieplätze liegt in den Tiefen des Psychotherapeutengesetzes. Denn nicht jede:r Psychotherapeut:in darf mit den Krankenkassen abrechnen, dafür brauchen die Therapeut:innen einen sogenannten Kassensitz. Wie viele Kassensitze es in einer bestimmten Region gibt, wird maßgeblich von der Einwohner:innenzahl der Region bestimmt. Die Kassenärztlichen Vereinigungen erstellen hier eine Bedarfsplanung, sodass es im besten Fall weder Über- noch Unterversorgung in den einzelnen Regionen gibt. Laut der offiziellen, von den Krankenkassen festgelegten Zahlen gibt es in Deutschland sogar eine Überversorgung an Psychotherapeut:innen, der Bedarf sei also mehr als gedeckt.
Und wo liegt dann das Problem? Der Teufel lauert im Detail, denn die ursprüngliche Bedarfsplanung, wie viele Psychotherapeut:innen in Deutschland benötigt werden, stammt aus dem Jahr 1999. Seitdem wird sie einfach weitergerechnet und somit hat sich an der Zahl der Kassensitze kaum etwas geändert. Auch der Krankenstand in der betroffenen Region spielt in der Bedarfsplanung keine Rolle.
Es mangelt also nicht an Therapeut:innen, sondern an Therapeut:innen mit Kassensitz.
Die Problematik kann man an einem einfachen Beispiel festmachen: Stell Dir vor, Dein Fuß tut weh. Du denkst, er könnte verstaucht sein, um die richtige Hilfe zu bekommen, brauchst Du aber eine Diagnose. Du rufst beim Arzt an, der sagt aber, dass er keinen Termin hat. Du rufst beim nächsten Arzt an, der bietet dir an, Dich auf die Warteliste zu setzen - nächster Termin in 6 Monaten. Und so geht es weiter, ein Arzt nach dem anderen vertröstet Dich, die Wartelisten sind lang und Du bekommst einfach nicht die Behandlung, die Du brauchst. Unvorstellbar, oder? Aber so geht es vielen Menschen, die nicht an einer physischen, sondern einer mentalen Krankheit leiden.
Zwar ist Psychotherapie bei weitem nicht mehr so ein Tabuthema, wie es noch vor wenigen Jahrzehnten, vielleicht sogar wenigen Jahren, war - dennoch ist die Hemmschwelle, zu eine:r Psychotherapeut:in zu gehen, noch enorm hoch.
Das Stigma psychischer Erkrankungen ist groß. Viele fürchten sich, das Thema im Freund:innenkreis oder der Familie anzusprechen - aus Angst, als "verrückt" abgestempelt zu werden. Dieses Stigma wird teils sogar von höchster Ebene befeuert. Josef Hecken, Vorsitzender des gemeinsamen Bundesausschusses und damit der wohl mächtigste Mann im Gesundheitswesen, sagte 2013 auf einer Sitzung des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen, nicht jede:r brauche eine Psychotherapie - manchmal tue es auch eine Flasche Bier.
Auf Nachfrage des "Spiegel Online" dementierte Hecken die Aussage nicht, er bezeichnete sie als "unglücklich, weil missverständlich". Weiterhin erklärte Hecken, er habe lediglich sagen wollen, dass man "als Privatperson nicht jede Befindlichkeitsstörung wie zum Beispiel gelegentliche Einschlafprobleme als krankhaften und sofort behandlungsbedürftigen Zustand ansehe, sondern mir dann manchmal als altes und überliefertes Hausmittel eine Flasche erwärmten Bieres hilft."
Möglicherweise muss man Hecken zugute halten, dass sich seit 2013 in der öffentlichen Debatte viel getan hat - das Thema ist heute weniger tabu, als noch vor zehn Jahren. Dennoch ist diese Aussage für den mächtigsten Mann im Gesundheitswesen inakzeptabel - auch damals schon. Sie bagatellisiere die Not der Patient:innen und stigmatisiere psychische Erkrankungen, so schrieben es Psychotherapeut:innen damals in einem Protestbrief.
Die von den Krankenkassen berechneten Zahlen gehen an der Realität vorbei, finden viele Psychotherapeut:innen. Wir haben mit Peter Holzer (Name von der Redaktion geändert), niedergelassener Psychologischer Psychotherapeut aus der Metropolregion Nürnberg, über die Problematik gesprochen.
"Nach wie vor ist die Wartezeit zu lang, vor allem, wenn Patient:innen feststellen, dass sie JETZT Hilfe brauchen und dann mehrere Monate warten und viel Aufwand betreiben müssen. Daher ist das immer noch deutlich zu lang", so Holzer. Dennoch sei die Versorgungsstruktur "deutlich besser als vor 15 Jahren, als ich angefangen habe."
Schon seit 2016 sind die Kassenärztlichen Vereinigungen verpflichtet, einen Terminservice anzubieten. Dieser muss innerhalb von vier Wochen einen Termin für ein Erstgespräch bei einem/einer Psychotherapeut:in anbieten; ist eine psychotherapeutische Akutbehandlung erforderlich, sind es sogar nur zwei Wochen. Nach Ablauf dieser Frist ist die Terminstelle verpflichtet, einen Termin für eine ambulante Behandlung in einem Krankenhaus anzubieten. Bis es nach dem Erstgespräch zu einer regelmäßigen Therapie kommt, kann es jedoch noch mehrere Wochen dauern.
Auch die psychotherapeutischen Praxen werden mit Anfragen geflutet, wie aus einer Umfrage der Bundespsychotherapeut:innenkammer hervorgeht: Dabei konnte allerdings nur jeder vierten Person ein Termin für ein Erstgespräch angeboten werden, die Wartezeit betrug in 50 Prozent der Fälle über einen Monat. 38 Prozent der Anfragenden musste länger als ein halbes Jahr warten, bis ihnen ein fester Behandlungsplatz angeboten werden konnte.
Holzer betont, dass das Gesetz, das Psychotherapeut:innen dazu verpflichtet, mehr Erstgespräche anzubieten, ein großer Fortschritt sei: "Ab diesem Moment befinden sich Patient:innen schon in der Versorgungsstruktur." Schließlich fände auch schon im Erstgespräch zumindest ein gewisses Maß an Beratung statt, Therapeut:innen könnten hier schon helfen, bei Bedarf einen Platz in einer psychosomatischen Klinik zu vermitteln oder auch in schwereren Fällen kurzfristig Termine einschieben.
Die Kluft zwischen Bedarf und Realität sei im Bereich der Kinder- und Jugendpsychotherapie noch deutlich größer. Psychische Leiden von Kindern und Jugendlichen, die oft aus der Anspannung und stärkeren Belastung der Eltern resultierten, sei in der Versorgungsstruktur nicht ausreichend aufgefangen: "Die Wartezeit beträgt oft mindestens ein halbes Jahr."
Eine gute Adresse, um auch kurzfristig eine Psychotherapie starten zu können, seien die Ausbildungsinstitute für Psychotherapeut:innen: "Bei uns im Ausbildungsinstitut beträgt die Wartezeit vier bis sechs Wochen, maximal drei Monate." Im Ausbildungsinstitut, in dem auch Holzer als Supervisor angestellt ist, arbeiteten derzeit etwa 40 Psychotherapeut:innen in Ausbildung.
Holzer empfiehlt, sich davor schon eine grobe Vorstellung zu machen, welche Art von Psychotherapie zur eigenen Person passt und sich Gedanken darüber zu machen, von welchem Therapieverfahren man sich erhofft, Hilfe zu bekommen. So orientiere sich die kognitive Verhaltenstherapie problemorientiert an der aktuellen Lebenssituation der Patient:innen, die Probleme sollen im Hier und Jetzt gelöst werden. Eine tiefenpsychologische Therapie oder Psychoanalyse hingegen konzentriere sich mehr auf persönliche Muster und die Lebensgeschichte der Patient:innen - daraus sollen Erkenntnisse abgeleitet werden, die in der aktuellen Lebenssituation der Betroffenen helfen.
Zudem rät Holzer, es bei mehreren Therapeut:innen zu probieren: "Wenn ein:e Psychotherapeut:in abweist, immer fragen, ob die Person, wohin man sich wenden kann." Viele Psychotherapeut:innen seien untereinander vernetzt und bekämen immer wieder mit, wenn Kolleg:innen freie Kapazitäten hätten.
Eine Umfrage der Bundespsychotherapeut:innenkammer aus dem Jahr 2018 zeigt: Psychisch kranke Menschen warten durchschnittlich fünf Monate auf einen Therapieplatz. Seitdem hat sich die Situation sogar noch verschlimmert, aus einer Umfrage der Deutschen Psychotherapeutenvereinigung geht hervor, dass psychotherapeutische Praxen seit 2021 40 Prozent mehr Patient:innenanfragen erhalten.
"Nicht nur die Corona-Pandemie, auch der Ukraine-Krieg und die damit einhergehende Unsicherheit in Europa sowie finanzielle Belastungen durch Inflation und Energiepreis-Boom spielen eine große Rolle. Die Stressoren und Belastungsfaktoren unserer allgemeinen Lebenssituation in der Gesellschaft sind verschärft", analysiert Holzer die immer noch aktuellen Belastungen. Auch er bekommt immer mehr Anfragen, vor allem seit Beginn der Corona-Pandemie: "Gefühlt ist der Bedarf gestiegen, gerade auch aufgrund dessen, dass andere Versorgungsstrukturen weggebrochen sind und zum Beispiel Kliniken (während der Lockdowns, Anm. der Redaktion) nur noch akut oder stark reduziert aufgenommen haben." Auch er kann nicht allen Anfragenden einen Therapieplatz anbieten, auch wenn ihm das Herz dabei blute: "Wir haben einfach konstant mehr Bedarf als Angebot."
Menschen, die an psychischen Erkrankungen oder Suizidgedanken leiden, sind nicht allein. Betroffene erhalten zum Beispiel bei der Telefonseelsorge niederschwellige Hilfe. Die Nummer 0800 111 0 111 ist rund um die Uhr besetzt, die Beratung ist kostenfrei und anonym. Auch der Krisendienst Mittelfranken ist 24 Stunden am Tag unter 0800 655 3000 oder 0911 42 48 55 0 erreichbar. Beratungen können auch online oder vor Ort erfolgen. In schweren Notfällen verständige bitte den Rettungsdienst unter 112.