Enver Şimşek, Abdurrahim Özüdoğru und İsmail Yaşar: drei der Opfer des "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) wurden in Nürnberg ermordet. Am Samstag, 9. September, jährt sich der Mord an Enver Şimşek zum 23. Mal. Er war das erste Opfer des NSU. "Nie wieder NSU" prangte nach der Selbstenttarnung der Gruppe in großen Lettern auf der Steintribüne auf dem ehemalige Reichsparteitagsgelände - einer der größten baulichen Hinterlassenschaften des Nationalsozialismus' in Nürnberg. Doch auch 23 Jahre nach dem ersten Mord und 12 Jahre nach der Selbstenttarnung der Terrorgruppe bleiben viele Fragen ungeklärt.
Auch 12 Jahre nach dem Auffliegen des NSU sind nicht alle Fragen zum Umfeld der Täter:innen geklärt. Die Rolle von V-Männern und -Frauen im Umfeld des NSU ist weiterhin unklar und höchst zweifelhaft. Insgesamt sollen über 40 dieser inoffiziellen Mitarbeiter:innen verschiedener Sicherheitsbehörden im Kontakt zu Uwe Mundlos, Uwe Böhnhardt und Beate Zschäpe gestanden haben. Die Identitäten vieler V-Männer und -Frauen ist nach wie vor ungeklärt: Akten seien vernichtet, Beweismittel zurückgehalten worden. Diesen inoffiziellen verdeckten Ermittler:innen, zumeist selbst in der teils militanten Neonazi-Szene aktiv, wird vorgeworfen, teils wichtige Hinweise zurückgehalten und das NSU-Trio sogar unterstützt zu haben.
Auch gegen die V-Mann-Führer:innen des Verfassungsschutzes werden schwere Vorwürfe erhoben: So ist mittlerweile nachgewiesen, dass das Führungspersonal Anweisung gab, diverse Akten zu schreddern. Im Nachhinein konnte rekonstruiert werden, dass Teile dieser Akten wohl belastend für sie selbst gewesen wären. Möglicherweise hatte der Verfassungsschutz sogar Informationen, mit denen Morde hätten verhindert werden können. Dennoch schütze der Verfassungsschutz V-Leute und deren Führer:innen vor Polizeiermittlungen.
Der zweite Untersuchungsausschuss des Bayerischen Landtages zum NSU - mit Fokus auf den drei Mordopfern aus Nürnberg - wurde am 18. Juli 2023 abgeschlossen. Helfer:innen vor Ort habe es vermutlich nicht gegeben: "Trotz aller Bemühungen ist es dem Ausschuss im Zuge der Aktenrecherchen und Zeugenvernehmungen nicht gelungen, den Nachweis für konkrete Kontakte zu bayerischen Rechtsextremisten nach dem Untertauchen des NSU zu erbringen", so Toni Schuberl (Bündnis 90 / Die Grünen), Vorsitzender des Untersuchungsausschusses, in seinem Fazit zu einer der zentralen Fragen des Ausschusses.
"Der NSU-Komplex ist sicherlich nicht komplett und vollständig ausgeleuchtet. Das gilt für eine ganze Reihe von Fragen. Beispielsweise haben wir ein ganzes Waffenarsenal gefunden beim NSU. Wir wissen nicht, was Sinn und Zweck eines solchen Waffenarsenals gewesen sein könnte. Die Morde wurden ja nur mit einer Waffe begangen", so Generalbundesanwalt Peter Frank noch im April 2023, wie der "Bayerische Rundfunk" berichtete. Ebenfalls ist die Opferauswahl des NSU nach wie vor schleierhaft.
Doch auch sonst bleibt im NSU-Komplex viel Aufklärungs- und Reflexionsarbeit offen.
Jahrelang tappte die Polizei im Dunkeln. Sechs Menschen türkischer und griechischer Herkunft wurden mit derselben Waffe erschossen - ein rassistisches Motiv vermutete trotzdem lange Zeit niemand. Hinweise wurden stets in der Familie und der Organisierten Kriminalität gesucht.
Aber: Nicht nur die Polizei, auch die Medien waren jahrelang auf dem rechten Auge blind. So folgten die Medienberichte fast ausschließlich unkritisch der Auffassung der Polizei. Ihren traurigen Höhepunkt findet die Berichterstattung in einem Sprachbild, das hässlicher kaum sein könnte: "Döner-Morde". Dieses Sprachbild, das sowohl von Boulevardpresse als auch Qualitätsmedien, von der "Bild" über die "taz" bis hin zur "Süddeutschen Zeitung" - auch den "Nürnberger Nachrichten" - verwendet wurde, zeigt eindeutig, welche rassistischen Vorurteile in der Berichterstattung mitschwang. Während nur zwei der Opfer des NSU in einem Dönerladen arbeiteten, verbreitete sich diese zutiefst diskriminierende Bezeichnung wie ein Lauffeuer und macht deutlich, wie Medien mit den Taten umgingen, welches Gesellschaftsbild sie reproduziert haben. Aus dem "Döner-Mord" wurde schnell auch der "Döner-Mörder" und selbst für den "Döner-Killer" waren sich einige Medienhäuser nicht zu schade. Die "Bild am Sonntag" spekulierte sogar, eine "Döner-Bande" habe die Kleinunternehmer ermordet.
Vermutlich geht die Bezeichnung auf die Überschrift einer Polizeimeldung zurück. Der Polizeireporter wollte damals "Der Mord an dem Döner-Verkäufer" schreiben - aus Platzgründen kürzte er die Überschrift, letztlich stand dort "Döner-Mord", wie der "Spiegel" berichtete.
Ein Aufschrei ging erst am 4. September 2011 durch Sicherheitsbehörden und Presse, als sich das Terror-Trio mit einem makabren Bekennervideo an die "Nürnberger Nachrichten" wendete - ein Aufschrei ob des eigenen Versagens. Zehn weitere Kopien des Videos wurden an weitere Medienhäuser und Vereine verschickt.
Im Jahr 2011 wurde die Begrifflichkeit zum "Unwort des Jahres" gekürt: "Mit der sachlich unangemessenen, folkloristisch-stereotypen Etikettierung einer rechtsterroristischen Mordserie werden ganze Bevölkerungsgruppen ausgegrenzt und die Opfer selbst in höchstem Maße diskriminiert, indem sie aufgrund ihrer Herkunft auf ein Imbissgericht reduziert werden", so heißt es in der Begründung des Urteils.
Wir gedenken der Opfer der rechtsextremen Terrorgruppe "Nationalsozialistischer Untergrund" (NSU).
Enver Şimşek (11. September 2000)
Abdurrahim Özüdoğru (13. Juni 2001)
Süleyman Taşköprü (27. Juni 2001)
Habil Kılıç (29. August 2001)
Mehmet Turgut (25. Februar 2004)
İsmail Yaşar (9. Juni 2005)
Theodoros Boulgarides (15. Juni 2005)
Mehmet Kubaşık (4. April 2006)
Halit Yozgat (6. April 2006)
Michèle Kiesewetter (25. April 2007)